BORIS Theses

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Das Spektrum des Außergewöhnlichen: Konzeptionelle Ansätze, empirisch-phänomenologische Untersuchungen und plananalytische Fallstudien zur mentalen Repräsentation bei außergewöhnlichen Erfahrungen

Fach, Wolfgang (2023). Das Spektrum des Außergewöhnlichen: Konzeptionelle Ansätze, empirisch-phänomenologische Untersuchungen und plananalytische Fallstudien zur mentalen Repräsentation bei außergewöhnlichen Erfahrungen. (Thesis). Universität Bern, Bern

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Abstract

Das zentrale Thema der vorliegenden Arbeit sind „Außergewöhnliche Erfahrungen“ (AgE). Der Begriff ist eine Sammelbezeichnung für Erfahrungen, die „in ihrer Qualität, ihrem Verlauf oder ihrer Genese von den Wirklichkeitsvorstellungen der Betroffenen und/oder ihrer sozialen Umwelt und/oder von den in modernen Gesellschaften etablierten epistemologischen Konzepten und wissenschaftlichen Prinzipien und Gesetzen abweichen“ (Fach & Belz, 2015, S. 466). Repräsentative Umfragen zeigen, dass AgE, die oft als „übersinnlich“ oder „übernatürlich“ bezeichnet werden, weit verbreitet sind. Beispielsweise sind drei Viertel der Deutschen von der Möglichkeit außersinnlicher Wahrnehmungen überzeugt und mehr als die Hälfte berichten, mindestens eine AgE in ihrem Leben gemacht zu haben (Schmied-Knittel, 2015). AgE werden häufig als positiv und bereichernd empfunden. Je nach den Umständen, unter denen sie auftreten, können sie jedoch auch sehr irritierend sein und Ängste auslösen. Viele Betroffene sind neben ihren AgE auch durch soziale, gesundheitliche und psychische Probleme belastet. Eine Anlaufstelle, bei der sie Hilfe finden können, ist das Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e. V. (IGPP), das kostenlose und professionelle psychologische Beratung für Menschen mit AgE anbietet. Mehr als ein Drittel der Ratsuchenden nahmen vor dem Kontakt mit dem IGPP schon psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch und fühlten sich zumeist nicht verstanden und ernstgenommen (Bauer & Fach, 2020). Je nach Ausprägung werden AgE oft nur für unbedeutende Spinnerei gehalten oder mit psychischen Störungen gleichgesetzt, obwohl sie vor dem Hintergrund der Biografie und der aktuellen Situation der Betroffenen häufig „Sinn machen“ und wichtige Funktionen für die Selbstregulation und die Bewältigung kritischer Lebensereignisse erfüllen (Belz, 2009a). Es besteht ein Versorgungsbedarf, dem aufgrund fehlender Kenntnisse, wissenschaftlicher Grundlagen und Behandlungskonzepte nicht adäquat begegnet werden kann. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Grundlagenforschung leisten und gliedert sich in drei umfangreiche Teile. Im ersten Teil wird der AgE-Begriff wissenschafts- und erkenntnistheoretisch untersucht und ausgehend von einer Theorie der mentalen Repräsentation (Metzinger, 2003) phänomenologisch und konzeptionell fundiert. Eine Differenzierung zwischen außergewöhnlichen Phänomenen (AgP) und Erfahrungen (AgE) wird mit Zwei-Prozess-Modellen der menschlichen Informationsverarbeitung und mit Theorien der menschlichen Selbstregulation, die zwischen selbstorganisierten und absichtsvollen Prozessen unterscheiden, in Beziehung gesetzt. In Verbindung mit nicht reduktionistischen Ansätzen wie dem Enaktivismus und dem Duale-Aspekte-Monismus wird ein psychophysisches Komplementäre-Aspekte-Paradigma zum Verständnis der Genese von AgP eingeführt. Ausgehend von diversen Bedürfnistheorien werden Autonomie und Bindung als psychologische Grundbedürfnisse und systemtheoretisch als komplementäre Strukturdeterminanten aller lebenden Systeme im Sinne ihrer Selbstorganisation und ihrer strukturellen Koppelung an die Umwelt bestimmt. Anknüpfend an Grawes (2000) Konsistenztheorie wird argumentiert, dass AgP Ausdruck systembezogener Mechanismen einer Inkonsistenzreduktion bei Verletzungen von Grundbedürfnissen sind und desintegrierte Autonomie und Bindung repräsentieren. Abschließend wird ein phänomenologisches Klassifikationssystem mit vier AgP-Grundklassen (Externalität, Internalität, Koinzidenz und Dissoziation) begründet. Auf AgP dieser Klassen basieren sechs typische AgE-Formenkreise, die im Wesentlichen das Beratungsaufkommen des IGPP ausmachen. An Fallbeispielen wird aufgezeigt, dass internale, im Selbst verankerte AgP (z. B. „außersinnliche Wahrnehmungen“) als Repräsentationen von desintegrierter Bindung und externale, in der Außenwelt wahrgenommene AgP (z. B. „Spukphänomene“) als Repräsentationen von desintegrierter Autonomie interpretiert werden können. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der empirischen Untersuchung von AgE anhand von umfangreichem Datenmaterial, das mit dem in der Beratung des IGPP eingesetzten Dokumentationssystem (DOKU) und einem „Fragebogen zur Phänomenologie außergewöhnlicher Erfahrungen“ (PAGE-R; Fach et al., 2011) erhoben wurde. Anhand von 2381 am IGPP dokumentierten Beratungsfällen wurden mittels Clusteranalysen sieben formenkreisbasierte Klienteltypen unterschieden, die sich signifikant bezüglich ihrer sozialen Bindung unterscheiden. Ratsuchende mit AgE des internalen Formenkreiskontinuums zeigen hinsichtlich Partnerschaft, Familienstand und Wohnsituation eine Betonung von Autonomie. Ratsuchende mit AgE des externalen Kontinuums zeigen eine Betonung von Bindung. Die PAGE-Daten wurden an IGPP-Ratsuchenden mit AgE (S1, n = 272), Menschen mit Erfahrungen in subjektiv erlebter Todesnähe (S2, n = 176), Studierenden (S3, n = 334) und einer Stichprobe der Schweizer Normalbevölkerung (S4, n = 1351) erhoben. Nach einer Reduktion des Itempools durch Selektion schwacher und problematischer Items zeigten Hauptachsen-Faktorenanalysen, dass ein bifaktorielles Modell mit einem AgE-Generalfaktor und vier Subdimensionen, die den AgP-Grundklassen entsprechen, das robusteste und am besten verallgemeinerbare Modell ist. Den Faktoren und dem Klassifikationssystem entsprechend wurde eine AgP-Globalskala mit Subskalen konstruiert, die gängige Gütekriterien der Testdiagnostik erfüllen. Die anschließende Datenauswertung zeigte, dass AgE in unterschiedlichen Populationen in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten, dabei aber die Anteile von AgP der vier Grundklassen proportional gleich sind. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass AgE hinsichtlich ihrer Phänomenologie und Dimensionalität ein eigenständiges psychologisches Konstrukt sind und sich AgE nicht auf einem Psychosekontinuum verorten lassen. Ein gehäuftes Auftreten von AgE ist nicht gleichzusetzen mit psychischen Belastungen oder Störungen. Zum Beispiel haben Personen mit Nahtoderfahrungen wesentlich häufiger AgE als Ratsuchende, dennoch sind sie wesentlich geringer belastet und bewerten ihre AgE von allen untersuchten Personengruppen am positivsten. Bei einer Teilstichprobe der Ratsuchenden, von denen zusätzlich zu den PAGE-Daten auch DOKU-Daten inklusive klinischer Angaben vorlagen (n = 184), konnte kein systematischer Zusammenhang zwischen der AgE-Häufigkeit und den Einschätzungen der psychischen Auffälligkeit durch die Beratenden festgestellt werden. Im dritten, qualitativen Teil werden Zusammenhänge zwischen AgE und von der Bindungsforschung beschriebenen Bindungsstilen untersucht. Während ein sicher-autonomer Bindungsstil mit einem ausgewogenen Verhältnis von Autonomie und Bindung einhergeht, betonen ein unsicher-distanzierter Stil Autonomie und ein unsicher-verstrickter Stil Bindung. Gemäß den Überlegungen im konzeptuellen Teil und den Ergebnissen im empirischen Teil wurde davon ausgegangen, dass Ratsuchende mit AgE des internalen Formenkreiskontinuums zu einem unsicher-distanzierten und Ratsuchende mit AgE des externalen Formenkreiskontinuums zu einem unsicher-verstrickten Bindungsstil tendieren. Die explorativen Hypothesen zu den Bindungsstilen wurden mit Annahmen über aktive und passive Konfliktbewältigungsmodi der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD, 2014) verknüpft. Des Weiteren wurde vermutet, dass sich Ratsuchende mit AgE aufgrund ihrer unsicheren Bindungsrepräsentationen durch rigide und wenig wandlungsfähige Planstrukturen (Caspar, 2018) mit nebenwirkungsreichen Vermeidungsplänen auszeichnen. Die explorativen Hypothesen wurden anhand einer Stichprobe von zwölf IGPP-Beratungsfällen, von denen jeweils zwei einen der sechs formenkreisspezifischen Klienteltypen repräsentieren, überprüft. Es wurden biografische Analysen und Plananalysen anhand von Videoaufzeichnungen aus Beratungssitzungen durchgeführt und Daten aus dem Fragebogen zur Analyse Motivationaler Schemata (FAMOS; Holtforth & Grawe, 2000) sowie dem Inkongruenzfragebogen (INK; Grosse Holtforth & Grawe, 2003) hinzugezogen. Zur Einschätzung der Bindungsstile wurden Beschreibungen und Beurteilungskriterien des Adult Attachment Interviews (AAI; George et al., 2016) und des Erwachsenen-Bindungstypen-Ratings (EBPR; Strauß & Lobo-Drost, 1999) angelegt. Die Hypothesen fanden weitgehend Bestätigung. Die vorliegenden Ergebnisse erweitern und vertiefen unser Verständnis der Funktion von AgE im psychischen Geschehen und im interaktionellen Verhalten von Menschen, die durch sie belastet sind. Damit leistet diese Arbeit einen Beitrag zur künftigen Verbesserung ihrer Versorgung.

Item Type: Thesis
Dissertation Type: Single
Date of Defense: 6 July 2023
Subjects: 100 Philosophy > 120 Epistemology
100 Philosophy > 130 Parapsychology & occultism
100 Philosophy > 150 Psychology
Institute / Center: 07 Faculty of Human Sciences > Institute of Psychology
Depositing User: Sarah Stalder
Date Deposited: 04 Jul 2024 11:16
Last Modified: 11 Jul 2024 09:03
URI: https://boristheses.unibe.ch/id/eprint/5179

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